DER BUB AUS OBERHAUSEN

Helmut Haller wurde 1939 geboren. Er wuchs mit sechs Geschwistern hier im Stadtteil auf. Er beschreibt seine Kindheit und sein Familienleben.

Meine Mutter war Hausfrau, wie fast alle Frauen zu dieser Zeit, und sie hätte auch gar nichts anderes arbeiten können, denn wir waren neun Kinder. Zwei der Mädchen sind während des zweiten Weltkrieges an Diphtherie gestorben, dagegen gab es keine Medikamente. Mein Vater, ein gelernter Schuhmacher, war als Zugschaffner bei der Eisenbahn beschäftigt. Mein Bruder und ich teilten uns ein Zimmer, was schon ein großer Luxus war, denn meine Schwestern waren zu fünft in einem.

Dann gab es noch das Schlafzimmer meiner Eltern und die Wohnstube. Mutter hat tagein, tagaus von früh bis spät gekocht, gewaschen, gebügelt und geputzt, der Vater hat für die Familie gesorgt. Nicht nur die Zeit während des Krieges, auch die Zeit danach, als alles zerstört war und es nichts gab, war eine schwere Zeit gewesen. Vater musste uns nach seiner Arbeit noch die Schuhe reparieren, jeder von uns hatte ein Paar und an neue war gar nicht zu denken.

Ich war das drittjüngste Kind von den neun, aber irgendwie war ich das Nesthäkchen, der Liebling meiner Mutter, und sie war mein ein und alles. Als kleines Kind hing ich nur an ihrem Rockzipfel, sie schmuste soviel mit mir, wie mit allen anderen nicht zusammen und später, und als ich beim BC Augsburg in der Schüler- und Jugendmannschaft Fußball gespielt habe, da ist sie bei jedem Spiel dabei gewesen und war mein erster und größter Fan. Sie hat zwar nie etwas in diese Richtung zu mir gesagt, aber sie gab mir immer das Gefühl, als ob sie wüsste, dass ich mal ein großer Fußballer sein werde. Manchmal geriet sie in Streit mit den anderen Zuschauern.

Der Hemad – Dritter von links.(1)

Ich war zu dieser Zeit immer der Kleinste in der Mannschaft, körperlich eher zart, wenn es dann auf dem Spielfeld robust zu Werke ging, weckte das eben den Beschützerinstinkt in meiner Mutter und Seiten, die ich an dieser herzlichen, liebevollen Frau bis dahin gar nicht kannte.

Einmal hat sie sogar mit dem Regenschirm zugeschlagen. »Das ist mein Sohn!«, hörte ich sie schreien.

Und dann kam der Tag als meine Mutter 1956 ziemlich früh und überraschend gestorben ist. Ich war eben siebzehn Jahre alt und es war für mich, wie soll ich sagen, der größte Schlag in meinem jungen Leben. Mit siebzehn war ich in der Lehre als Feinmechaniker und da komme ich einen Nachmittag von der Berufsschule nach Hause, Mutter nicht da. »Liegt im Krankenhaus«, sagte mein Vater nur knapp. Es gab ja so viel zu tun im Haushalt. Natürlich bin gleich zu ihr ins Krankenhaus gelaufen, sie war im Bett gelegen, die kurzen Arme so ganz komisch über der Decke zusammengefaltet. Am nächsten Tag ist sie dann gestorben. Sie war schwer zuckerkrank, in dieser Zeit gab es aber keine Spritzen.

Ich habe nach dem Tod meiner Mutter zwei Tage nur geweint, war nicht fähig irgend etwas anderes zu tun oder an irgend etwas anderes zu denken, im wahrsten Wortsinn war meine Welt eingestürzt. Meine Mutter wurde 1903 in Augsburg geboren, sie hat nur immer alles gegeben für ihre Kinder, für sich hat sie sich gar nichts gegönnt. Es war ein Donnerstag, an dem sie gestorben ist, am Samstag sollte ich wieder Fußball spielen.

Ich war aufgestellt mit der Jugend und habe meinen Vater gefragt: ,»was soll ich machen, wir haben ein wichtiges Spiel?« Mein Vater und meine Geschwister haben gesagt:

»Bub, spiel das Spiel, die Mama hätte das auch gewollt.«

Na ja, ich habe dann gespielt und habe sogar noch gut gespielt. Ich habe immer nach draußen gehört, auf ihre Stimme. Noch heute denke ich oft an meine Mutter und schäme mich auch nicht, wenn mir dabei manchmal die Tränen kommen. Nur ein paar Jahre nach ihrem Tod habe ich so viel Geld verdient und was hätte ich ihr nicht alles kaufen können, eine Waschmaschine, einen Pelzmantel, vor allem einen schönen Urlaub. Denn in den Urlaub gefahren ist meine Mutter nie, sie war immer nur zu Hause, war ja nur so viel da, dass es knapp fürs Nötigste reichte und kurz bevor sich alles auszahlt, muss sie dann sterben, jammerschade.

Mein Vater war ein richtiges Arbeitstier, kam im Jahre 1900 ebenfalls in Augsburg zur Welt, das er in den letzten Kriegstagen noch vom Kirchturm aus gegen die anrückenden Alliierten verteidigen musste. Mein Vater war sehr streng, arbeitete als Schaffner bei der Eisenbahn, fuhr aber nur regionale Strecken, vielleicht einhundertfünfzig Kilometer nach Nürnberg und wieder zurück, also kam er jeden Abend wieder heim. Da hat er nebenbei noch Schuhe repariert, meine Schuhe, die von meinem Bruder und welche aus der Nachbarschaft. In seiner Jugend hatte er Schuster gelernt. Vaters Hobby und sein ganzer Stolz war unser kleiner Schrebergarten. […]

In dem Garten wuchs auch viel Obst. Und an meinem Geburtstag, ich bin ja im Juli geboren, da waren die Erdbeeren immer schon reif und ich durfte den ganzen Tag nach Herzenslust essen, das war immer mein Geburtstagsgeschenk.

Der Vater hat ein sehr gutes Verhältnis zu uns Kindern gehabt, ich könnte über meinen Vater gar nichts Schlechtes berichten, er war ein schlanker, sportlicher Mann und erzählte mir immer, er habe früher selbst Fußball gespielt. Da hat er mir mal ein altes graubraunes Foto von 1915 gezeigt, wo er mit den damals üblichen langen Hosen gespielt hat, aber das war nur zum Zeitvertreib. Das Talent hab ich von ihm sicher nicht geerbt, ich weiß gar nicht, wo das bei mir herkommt. Der Vater hat zum Glück noch etwas von meiner Karriere mitbekommen. In Augsburg sowieso, aber ich konnte ihn auch noch nach Bologna einladen, nach Turin und in viele andere tolle Städte und Stadien, er hat noch vieles von mir mitbekommen bis er 1983 starb.

Nach der Weltmeisterschaft 1966 in England, kamen die ganzen Reporter zu uns nach Hause und haben meinen Vater und meine Geschwister befragt, was sie so denken von mir, da sind sie natürlich alle ganz stolz gewesen und der Vater besonders. Wenn ich könnte, würde ich beide Eltern aus dem Grab rausziehen. Ich habe früher meine Geschwister kaum gesehen, die waren auch froh, wenn ich nicht dabei war. lch war der Herumtreiber, bei mir war immer etwas los, ich war ja ein Spitzbub in jeder Beziehung und wenn was gewesen ist, der Helmut war immer der erste, den man in Verdacht hatte. Mein Bruder hat dagegen schon immer eine klare Linie gehabt, wofür ich ihn heimlich bewunderte.

Das Ziel der Eltern war einzig und allein, die Familie mit den vielen Kindern irgendwie durchzubringen. Später, als ich in Italien gespielt habe, waren alle stolz auf mich. Meinen Urlaub, drei Wochen im Sommer, hab ich dann immer zu Hause in Augsburg mit der Familie verbracht. Immer und jedes Jahr, weil ich wusste, die nächsten elf Monate würde ich wieder fort sein. Diese Treffen und der Kontakt zu meinen Geschwistern war mir immer sehr wichtig. Wir kommen heute noch ab und an zusammen, alle haben einen Schrebergarten, da treffen wir uns und reden auch viel über die alten Zeiten, zum Beispiel, dass ich immer die Kleidung von meinem älteren Bruder auftragen musste.

Und als ich heraus gewachsen war, wurde vieles für die Mädchen umgeschneidert. Das war immer noch einfacher und vor allem günstiger, als neue Sachen. Meine Geschwister sind über die Jahrzehnte alle in Augsburg geblieben, mit Ausnahme der zweitjüngsten Schwester, die ein Jahr nach mir geboren wurde und nun in Tampa wohnt. Sie hat vor mehr als vierzig Jahren einen Amerikaner kennen gelernt und geheiratet und lebt seitdem in Florida. Aber auch sie kommt auf Besuch oder wir fliegen mal nach Florida. Was wir früher in der Kinder- und Jugendzeit oftmals als ein wenig lästig und anstrengend empfanden, weiß ich heute sehr zu schätzen: eine große Familie, auf die man sich verlassen kann.


Giacomo Belardi, ein Jugendfreund und späterer Kollege von Haller, beschreibt, wie am Oberhauser Bahnhof gekickt wurde:

Text

Auszug aus dem Exposé »Haller – il biondo« von 2007. Eine Autobiografie sollte in Zusammenarbeit mit dem Sportjournalisten Frank Schlageter entstehen.

Bilder

Titelbild: Fred Schöllhorn
(1) Familie Haller